with full force


Meine Freundin Sonnenschein weigerte sich unlängst, mich auf ein Musikfestival der härteren Art zu begleiten. Ich konnte das nicht nachvollziehen, schließlich wurde das Festival von Jörch hemmungslos angepriesen: "Ey, gei-el, drei Tage Hauptschule, die ganze Zeit Heavy Metal, Punk- und Skinheadmucke - allet leer bis Montag!!"
Welche ernstzunehmende junge Dame kann solchen Argumenten widerstehen? Auch das Programmheft konnte sie nicht überzeugen, welches gespickt ist mit lustigen Fotos von symphatischen jungen Männern und...äh, zwei Frauen. Einer Bassistin, glaube ich, und einer Sängerin, wobei das fehlende Y-Chromoson der Letzteren nicht auf Anhieb erkennbar ist. Das Programmheft konnte zugegebenermaßen auch mich nicht überzeugen. Ich bin mir bis heute nicht sicher, ob es ernst gemeint ist oder nicht. Auf jeden Fall ist es lustig. Ähnlich wie die Covertexte meiner Lieblingskunstfilmrichtung strotzt das Programmheft des diesjährigen "With Full Force"-Festivals von gewagten Wortkonstruktionen. Glänzen Porno-Covertexte mit Sätzen wie
"Zwei entfesselte Lustweiber saugen einem abspritzfreudigen Milchmann die Bimbo-Sahne aus der Tüte, bevor sie sich von den analgeilen Müllmännern die Rosette bügeln lassen", erklärt uns das WFF-Programmheft wie die Formation Devil Driver "alle Spielarten des Rock von grindigen Blastbeats über dreckige Trash Riffs bis röhrende Wüstenrock Grooves am Anschlag des Möglichen zu einer suchterregenden Melange zusammenmixt."

Ich glaube, diese beiden Spielarten der erklärenden Literatur basieren auf sogenannten Assoziationsblastern, Computerprogrammen die aus verschiedenen Bausteinen Texte zusammenbasteln. Aus diesem Grund oder aus Mangel an Geld wurden keine Texter, sondern Festivalgäste des letzten Jahres engagiert. Ich sach nur:  "Allet leer."
Zu überzeugen an diesem "Festival der guten Laune" teilzunehmen war die holde Weiblichkeit auf jeden Fall nicht, und ich mußte mich mit Stefan alleine auf den Weg machen. Nachdem ich mich natürlich in Hamburg einmal ganz kurz verfahren hatte, was uns eine Stunde kostete, rutschten wir gemütlich in Richtung Roitschora bei Leipzig. Am Festivalgelände angekommen reihten wir uns in die lange Autoschlange ein. Man benötigte ungefähr anderthalb Stunden, um auf das Gelände zu kommen. Das ist so, damit die Ankommenden auch wirklich keinen Alkohol mit aufs Gelände bringen. Das wäre zwar erlaubt, aber nach der langen Wartezeit hatten 90 Prozent der Neuankömmlinge ihre kompletten Vorräte aufgebraucht und den IQ auf festivaltaugliche 25 heruntergeschraubt. Von außen konnten wir aber immerhin schon die Band Meshhuggah genießen, die laut Prgrammheft
"aus vertrackten Dauer-Breaks ein brutal-bizzarres Alien puzzelt, das einem mit sadistischen Frequenzen das Rückenmark aus dem Skelett wickelt".
Für den Anfang gar nicht schlecht. Als dann endlich unser Auto nach Gas- und Glasflaschen durchsucht wurde, hatte ich schon fast die richtige Bettschwere, was mich etwas skeptisch werden ließ, ob Sonnenschein nicht doch recht gehabt haben könnte und ich etwas zu alt für solche Festivals bin. Stand uns doch noch das ganze Zeltaufbauen und einige gehirnzerfetzende Bands bevor.
Am Zeltplatz lernten wir dann einige interessante neue Leute kennen - unter anderem einen Schwaben mit rosa Minirock und Oberlippenbart. Dieser war sicher einer der meistfotografierten Freaks des Wochenendes. Zu dieser elitären Gruppe zu gehören, die aufgrund ihres unglaublich skurrilen oder schlicht beschissenen Aussehens von wildfremden Menschen, die ähnlich,  nur nicht ganz so abwegig aussehen fotografiert zu werden war anscheinend das Hauptziel fast aller Besucher. Unter ihnen gab es einige, die sich große Mühe gaben aufzufallen, einige, die sich sehr große Mühe hätten geben müssen, um nicht aufzufallen, und es gab Erik. Erik hatte den genialen Einfall, bei einem der ersten Pogo-Konzerte seine 8,7 Promille-Brille zu verlieren und die ganze Meute darauf herumtrampeln zu lassen. Das brachte kurzfristig Freunde und schien in diesem Moment genau das Richtige zu sein. Wie so oft im Leben war diese schnell gefällte, quasi spontane Entscheidung aus dem Bauch heraus nicht die bestmögliche.

Erik konnte jetzt zwar noch hervorragend hell und dunkel unterscheiden - mehr aber nicht. Durch das verkniffene und leicht schielende Gesicht, das er ohne Brille machte, hoffte er in die Reihe der Fotografierten aufzusteigen und doch noch einen Vorteil aus seiner Schnapsidee zu ziehen. Es stellte sich aber schnell heraus, dass das nicht ausreichte. Im Laufe des Festivals hätte sich sein Freakstatus zwar sicher noch erhöht, da er schon nach 10 Minuten einige blaue Flecken und offene Wunden aufwies, weil er ständig irgendwo gegenlief, aber ich fand schnell eine weniger schmerzhafte Lösung: Ich schwänzte die Kombo Krisium, die versprochen hatten "mir mit ihren Riffs das Fleisch zu zerfetzen, mit dem Bass die Zähne mit höllischer Präzision von innen an die Schädeldecke zu drücken und mit dem Drumming in wahnwitziger Geschwindigkeit das Genick zu brechen" und reparierte die Brille, deren Gläser wie durch ein Wunder heil geblieben waren mit silbernem Panzerband, Gummibändern und einem Plastikmesser. Das Messer machte in seiner Funktion als neuer oberer Querträger die Brille zu einer Augenweide und Erik zum meistfotografierten Freak des Festivals. Manchmal kam ich auch mit aufs Foto, weil ich die ganze Zeit neben ihm herlief und jedem erzählte, dass Dank meiner Ingenieurskunst ein Blinder wieder sehen könne und dass ich dadurch ja wohl ein bißchen wie Jesus wäre.
Wie ich mittlerweile erfahren habe war auch der Fielmann Optiker begeistert, als er die Brille nach dem Wochenende zwecks Nachziehen der Schrauben vorgelegt bekam.
Trotzdem weigert sich Erik die Brille im Alltagsleben zu tragen. Er ist ein gutes Beispiel für Spießer, die beim Festival auf abgefahren machen, um dann wieder so zu tun als seien sie ganz normale Menschen.

 

© Thomas Nast